Michael Tsokos, Deutschlands bekanntester Rechtsmediziner, liefert mit „Abgeschlagen“ einen True-Crime-Thriller, der als Prequel zu seinem Bestseller „Abgeschnitten“ fungiert. Wer sich für forensische Details, reale Mordfälle und die dunklen Seiten menschlicher Abgründe interessiert, wird hier fündig – allerdings nicht ohne kritische Anmerkungen.
Handlung und Aufbau
Die Geschichte beginnt mit einem grausamen Fund: Eine zerstückelte Frauenleiche taucht in einem Kieler Park auf, neben einem ermordeten Serienmörder. Die Tatwaffe – eine kunstvoll verzierte Machete – wird überraschend schnell identifiziert, was bei dem jungen Rechtsmediziner Paul Herzfeld Misstrauen weckt. Sein Vorgesetzter, Prof. Schneider, scheint sich allzu sicher zu sein und wird von den Medien als Genie gefeiert. Doch als ein Hausmeister behauptet, die Machete schon einmal gesehen zu haben, beginnt Herzfeld auf eigene Faust zu ermitteln – und stößt auf ein Netz aus Lügen, Ehrgeiz und tödlichen Geheimnissen.
Der Roman ist in zwei zeitlich versetzte Teile gegliedert, was der Spannung zunächst zugutekommt. Der erste Teil spielt zehn Jahre vor „Abgeschnitten“, der zweite drei Jahre später. Diese Struktur erlaubt es, Herzfelds Entwicklung vom Assistenzarzt zum eigenständigen Ermittler nachzuverfolgen.
Spannung vs. Vorhersehbarkeit
Tsokos versteht es, mit realen Fällen und medizinischem Fachwissen eine beklemmende Atmosphäre zu schaffen. Die Obduktionsszenen sind detailliert, aber nie überladen. Dennoch bleibt die Handlung in weiten Teilen vorhersehbar. Die Indizienkette ist so offensichtlich gelegt, dass man als Leser kaum überrascht wird. Wer geübte Thriller-Antennen besitzt, wird früh ahnen, wohin die Reise geht.
Das schmälert die Spannung zwar etwas, macht das Buch aber nicht weniger lesenswert – denn die Stärke liegt woanders.
Charaktere mit Tiefe
Paul Herzfeld ist ein Protagonist, der überzeugt. Er ist kein überzeichneter Held, sondern ein glaubwürdiger, reflektierter Arzt, der sich gegen Hierarchien behauptet und dabei auch persönliche Risiken eingeht. Auch Nebenfiguren wie Prof. Schneider oder der italienische Besuch im Institut sind gut gezeichnet und tragen zur Dynamik bei. Tsokos gelingt es, die Figuren nicht nur funktional, sondern menschlich zu gestalten – ein klarer Pluspunkt.
Stil und Atmosphäre
Der Schreibstil ist flüssig und direkt. Tsokos verzichtet auf literarische Schnörkel und setzt stattdessen auf klare Sprache und sachliche Präzision. Das passt zum Genre und zur Thematik. Die Atmosphäre ist düster, aber nicht übertrieben – eher sachlich beklemmend als reißerisch.
Fazit
„Abgeschlagen“ ist ein solider Thriller mit True-Crime-Elementen, der durch seine authentischen Einblicke in die Rechtsmedizin und seine gut entwickelten Charaktere punktet. Die Handlung ist spannend, wenn auch durchschaubar, und lebt vor allem von der Figur Paul Herzfeld. Wer sich für reale Kriminalfälle interessiert und einen Blick hinter die Kulissen der Gerichtsmedizin werfen möchte, wird hier gut bedient – auch wenn der ganz große Nervenkitzel ausbleibt.