
In einer Zeit, in der die sicherheitspolitischen Herausforderungen in Europa immer drängender werden, ist es unerlässlich, dass die Europäer ihre Verteidigung selbst in die Hand nehmen. Militärexperte Nico Lange, Senior Fellow bei der Münchner Sicherheitskonferenz, teilt seine Einschätzungen zu den aktuellen Entwicklungen und den notwendigen Schritten, die Europa unternehmen muss, um seine Sicherheit zu gewährleisten.
Der Hebel wird umgelegt?
Die Diskussion darüber, wie Europa seine Sicherheit verbessern kann, hat in den letzten Jahren an Fahrt gewonnen. Lange betont, dass es zwar positive Signale gibt, jedoch zunächst nur auf dem Papier stehen. „Papier ist geduldig“, sagt er und äußert seine Skepsis, ob die angekündigten Maßnahmen tatsächlich in die Tat umgesetzt werden. Besonders wichtig ist ihm, dass Europa mehr ist als nur die EU, denn auch das Vereinigte Königreich und andere Länder spielen eine entscheidende Rolle in der europäischen Sicherheitsarchitektur.
Investitionen in die europäische Sicherheit
Ein zentrales Thema des Gesprächs ist der Plan von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, 800 Milliarden Euro für Flugabwehrsysteme, Drohnen und Cyberaufklärung bereitzustellen. Lange äußert sich dazu skeptisch: „Es gab in der Vergangenheit immer wieder Versuche, bestehende Gelder umzuetikettieren.“ Er fordert konkrete Schritte und Ergebnisse, insbesondere im Hinblick auf die ukrainische Industrie, die für die eigene Sicherheit mehr produzieren könnte.
Die Rolle der Verteidigungsindustrie
Lange hebt hervor, dass die europäische Verteidigungsindustrie dringend finanziert werden muss. „Wenn die EU es schafft, die Verteidigungsindustrie sofort zu finanzieren, dann ist das ein konkreter Schritt“, erklärt er. Die Herausforderung liege darin, die Kapazitäten schnell auszubauen und nicht nur mit großen Summen zu operieren, die möglicherweise nicht in echte Ergebnisse münden.
Der Stimmungswechsel in Europa
Obwohl Lange skeptisch ist, erkennt er einen Stimmungswechsel in der Politik. „Es gibt ein deutliches Zeichen, dass sich etwas tut“, sagt er und verweist auf die Zusammenarbeit zwischen der Kommissionspräsidentin und anderen hochrangigen EU-Vertretern. Dennoch bleibt die Frage, wie die EU mit Ländern wie Ungarn umgehen sollte, die oft blockieren und nicht bereit sind, sich dem gemeinsamen Ziel zu verpflichten.
Koalition der Willigen
Eine mögliche Lösung sieht Lange in der Bildung von Gruppen von Staaten, die bereit sind, voranzugehen. „Man muss sich von den Blockierern lösen und konkrete Schritte einleiten“, fordert er. Dies könnte die Form einer „Koalition der Willigen“ annehmen, die sich auf die gemeinsamen Sicherheitsinteressen konzentriert.
Die nukleare Debatte
Ein weiterer wichtiger Aspekt ist die Diskussion über einen erweiterten nuklearen Schutzschirm in Europa. Lange hält es für sinnvoll, einen nuklearen Plan B zwischen den europäischen NATO-Partnern zu diskutieren. „Aber wir müssen aufpassen, dass wir nicht eine Ersatzdebatte führen, die die konventionelle Bedrohung durch Russland ignoriert“, warnt er. Der Fokus müsse auf der Stärkung der konventionellen Verteidigung liegen.
Prioritäten beim Materialeinkauf
Wenn die angekündigten Gelder tatsächlich bereitgestellt werden, stellt sich die Frage, wo die Prioritäten beim Materialeinkauf gesetzt werden sollten. Lange betont, dass es nicht nur um den Einkauf von Material gehe, sondern auch um die Fähigkeit, Einsatzkräfte bereitzustellen. „Wir brauchen Satellitenfähigkeiten, autonome Systeme, und digitale Führungssysteme“, erklärt er und fordert eine Öffnung für Start-ups, um Innovationen und neue Ansätze in den Verteidigungssektor zu bringen.
Die geopolitische Lage und die Rolle der USA
Im Kontext der geopolitischen Entwicklungen äußert Lange Bedenken hinsichtlich der zukünftigen Beziehung zwischen den USA und Russland, insbesondere unter einer möglichen Präsidentschaft von Donald Trump. „Es ist nicht abzusehen, wie nah sich Putin und Trump kommen werden“, sagt er und erinnert daran, dass ähnliche Versuche in der Vergangenheit gescheitert sind. Die Europäer müssen jetzt Stärke zeigen und sich nicht von externen Akteuren in ihrer Sicherheitspolitik unter Druck setzen lassen.
Die Situation der Ukraine
Abschließend spricht Lange über die Situation der Ukraine und deren Fähigkeit, unter den aktuellen Umständen durchzuhalten. „Ich mache mir weniger Sorgen um die Ukraine als um uns selbst“, sagt er und hebt hervor, dass die Ukraine pragmatisch und schlagkräftig ist. Die Ukraine führt derzeit sogar Gegenangriffe und zeigt, dass sie in der Lage ist, die Situation auf dem Schlachtfeld zu beeinflussen.
Fazit
Das Gespräch mit Nico Lange verdeutlicht, dass Europa vor großen Herausforderungen steht, wenn es um die eigene Sicherheit geht. Die Ankündigungen von Investitionen sind ein Schritt in die richtige Richtung, doch es bedarf konkreter Taten und einer klaren Strategie, um die Verteidigungsfähigkeit zu stärken. Europa muss sich neu aufstellen und bereit sein, die Verantwortung für die eigene Sicherheit zu übernehmen.