
Mit einem kombinierten Verteidigungshaushalt von 373,5 Milliarden US-Dollar und über 1,8 Millionen Soldaten scheinen die europäischen NATO-Staaten auf den ersten Blick gut aufgestellt zu sein. Doch die Realität ist komplexer. In diesem Artikel untersuchen wir die Frage, ob Europa im Ernstfall in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen.
Warum muss sich Europa selbst verteidigen können?
Die Notwendigkeit für Europa, sich selbst verteidigen zu können, ist in den letzten Jahren immer dringlicher geworden. Der Krieg in der Ukraine markiert den größten Landkrieg seit dem Zweiten Weltkrieg in Europa. Russland hat sich als militärischer Aggressor etabliert und stellt eine erhebliche Bedrohung für Frieden und Sicherheit im euroatlantischen Raum dar. Gleichzeitig zeigt sich, dass die USA, traditionell die Schutzmacht Europas, immer weniger bereit und in der Lage sind, diese Rolle zu erfüllen.
Ein weiterer Faktor ist der innenpolitische Drang in den USA nach weniger internationalem Engagement. Diese Tendenz betrifft nicht nur bestimmte politische Strömungen, sondern zieht sich durch die gesamte politische Landschaft. Zudem richtet sich die US-Außen- und Sicherheitspolitik zunehmend auf den Indopazifik, was die militärischen Kapazitäten der USA zusätzlich belastet.
Falls Russland beispielsweise das Baltikum angreifen sollte, könnte China die Gelegenheit nutzen, um Taiwan anzugreifen. In einem solchen Szenario wären die USA kaum in der Lage, an beiden Fronten gleichzeitig zu kämpfen. Europa muss also in der Lage sein, sich selbst zu verteidigen, da die militärische Unterstützung der USA im Ernstfall begrenzt sein wird.
Kräfteverhältnis
Betrachten wir das aktuelle Kräfteverhältnis zwischen den europäischen NATO-Staaten und Russland. Im Jahr 2023 haben die europäischen Staaten insgesamt 373,5 Milliarden US-Dollar für Verteidigung ausgegeben, während Russland 74,8 Milliarden US-Dollar investiert hat. Diese Zahlen verdeutlichen zunächst eine klare Überlegenheit der europäischen Staaten.
Allerdings muss man die Unterschiede in der Kaufkraft berücksichtigen. Im Jahr 2020 betrug das russische Verteidigungsbudget, kaufkraftbereinigt, bereits 196,5 Milliarden US-Dollar. Die tatsächliche Differenz zwischen den Verteidigungsetats ist somit geringer, als es auf den ersten Blick scheint.
In Bezug auf die aktive Truppenstärke verfügen die europäischen Staaten über etwa 1,83 Millionen Soldaten, während Russland rund 1,3 Millionen Soldaten hat, mit einem geplanten Anstieg auf 1,5 Millionen in den kommenden Jahren.
Ein Überblick über die wichtigsten Materialkategorien zeigt, dass die europäischen Staaten beispielsweise über 6.300 Kampfpanzern verfügen, während Russland nur rund 2.000 besitzt. Bei Schützenpanzern haben die europäischen Staaten 9.000 Fahrzeuge im Vergleich zu 4.000 in Russland. Auch bei Transportpanzern und Artillerie sind die europäischen NATO-Staaten besser aufgestellt.
Allerdings zeigt sich ein umgekehrtes Bild bei der Flugabwehr. Hier hat Russland mit 2.500 Einheiten eine deutlich größere Kapazität als die europäischen Staaten, die nur 1.215 Einheiten besitzen. Besonders im Bereich der weitreichenden bodengebundenen Luftverteidigungssysteme ist Europa Russland deutlich unterlegen.
Vergleich der militärischen Kapazitäten
Ein Vergleich der militärischen Kapazitäten offenbart, dass die europäischen NATO-Staaten mit 3.181 Hubschraubern und 2.055 Kampfflugzeugen klar im Vorteil sind. Im Bereich der Überwasserkampfschiffe besitzen die europäischen Staaten 140 Einheiten, während Russland nur 33 hat. Bei U-Booten führt die NATO ebenfalls mit 73 gegenüber 50 russischen U-Booten.
Diese Zahlen sind zwar beeindruckend, jedoch gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen europäischen Staaten. Zum Beispiel besitzen 12 europäische Staaten keine eigenen Kampfflugzeuge, und 14 verfügen über keine Kampfpanzern, was ihre Fähigkeit zur Teilnahme an zentralen Missionen stark einschränkt.
Zusätzlich verwenden viele europäische Staaten unterschiedliche und oft veraltete Systeme, einschließlich sowjetischer Altbestände. Massive Einsparungen bei Wartungs- und Modernisierungsprogrammen verschärfen die Situation weiter. Daher sind die europäischen Streitkräfte in ihrer Einsatzbereitschaft und Modernität nicht so stark, wie die absoluten Zahlen vermuten lassen.
Fähigkeitslücken
Die europäischen Staaten weisen auch erhebliche Fähigkeitslücken auf, insbesondere im Bereich der sogenannten “Enabler”. Dazu gehören Kommando- und Führungssysteme, Flugzeuge und Waffensysteme zur Bekämpfung feindlicher Luftabwehr, sowie Präzisionswaffen und Systeme zur Aufklärung.
Um die Verteidigungsfähigkeit in Europa zu erhöhen, müssen diese Lücken schnellstmöglich geschlossen werden. Experten schätzen, dass es mehr als ein Jahrzehnt und einen hohen dreistelligen Milliardenbetrag kosten würde, um Europa vollständig unabhängig von den USA zu machen.
Die Notwendigkeit zur Modernisierung der Streitkräfte und zur Erhöhung der Einsatzbereitschaft ist offensichtlich. Hier könnte Deutschland eine Führungsrolle übernehmen, aber es ist klar, dass dies nicht von heute auf morgen geschehen kann.
Fazit
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Europa kurz- bis mittelfristig nicht in der Lage ist, sich selbst zu verteidigen. Zu lange war der Kontinent in einem sicherheitspolitischen Dornröschenschlaf. Um diese Fähigkeit zurückzugewinnen, müssen die europäischen Staaten ihre Streitkräfte modernisieren und die vorhandenen Fähigkeitslücken schließen.
Die Finanzierung und Umsetzung dieser Maßnahmen wird eine enorme Herausforderung darstellen, aber sie ist unerlässlich, um die Sicherheit Europas in einer zunehmend unsicheren Welt zu gewährleisten. Die Zeit des Abwartens ist vorbei, und Europa muss jetzt handeln, um sich selbst zu verteidigen.
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